An Tagen wie diesen
Weh-Weh-Weh
Willis Wein Werkstatt
Heute auf der Hebebühne: dreimal
Forster Pechstein
Die Bahn, so berichtet mein
hoffnungslos optimistischer österreichischer Freund, werde jetzt
ihre Verspätungen im Personenverkehr in den Griff kriegen. Die
Hauptfehlerquelle sei ja die Störungsanfälligkeit der Wagons. Dem
werde die Bahn begegnen, indem sie auf wagonlosen Schienenverkehr
umstelle. Interessanter Ansatz! Kommt aber wohl erst mit der
Umstellung auf den Winterfahrplan im Oktober.
Ich habe es mal getestet, wie das im
Sommer so ist, bei der Bahn. Letzte Woche Donnerstag. Mit dem ICE von
Siegburg zum Frankfurter Flughafen, von dort weiter mit einem anderen
ICE nach Nürnberg. Klappt super, schon in Siegburg gestattet mir die
Bahn aufpreisfrei eine Aufenthaltsverlängerung auf dem Bahnsteig.
Der Zug kommt einfach nicht. Was auch nicht kommt, ist eine Ansage
zur Verspätung. Oder einen Anzeige auf dem hochmodernen Display. Mit
35 Minuten Verspätung trifft schließlich ankündigungslos der Zug
ein. Und bleibt zehn Minuten stehen, um den aus Köln angereisten
Fahrgästen genügend Zeit zu geben, sich alle Feinheiten der Fassade
des Siegburger Multiplexkinos links und des Bahnhofsparkhauses rechts
einzuprägen. Das nenne ich Service. Auch auf der Strecke nach
Frankfurt fährt der Zug nicht achtlos an den Schönheiten der
rheinisch-hessischen Landschaft vorbei. Immer wieder großzügig
eingestreute Schritttempopassagen erlauben es den Reisenden,
nachzuzählen, ob die Bäume des Westwalds noch vollzählig vorhanden
sind. Bis zum Flughafen Frankfurt ist eine Stunde Verspätung
eingesammelt. Bis heute verstehe ich nicht, warum der freundliche
Zugbegleiter nicht auf meinen Rat eingehen wollte, doch nun einfach
die Zugnummer auf die Nummer des fahrplanmäßig eine Stunde nach
unserem Zug verkehrenden ICE umzustellen. Dann wäre man doch
zumindest einmal pünktlich gewesen.
In Frankfurt ist von dem Zug, der nach
Nürnberg fahren sollte, natürlich nichts zu sehen. Zwanzig Minuten
Verspätung sind angezeigt. Zehn Minuten später sind es dann dreißig
Minuten, weitere zehn Minuten später werden schon vierzig Minuten
Verspätung angezeigt. Genial, die Bahn hat das Perpetuum Mobile
erfunden! Der Zug bleibt permanent zwanzig Minuten weit weg. Tote
Hosen, aufgepasst – wenn Ihr Euch an Tagen wie diesen wieder einmal
Unendlichkeit wünscht, auf dem Bahnhof Frankfurt Flughafen findet
Ihr sie. Ebenso wie eine freundliche Bahnmitarbeiterin am
Auskunftsschalter, die da direkt unter der Anzeige der Züge sitzt.
Ich habe sie gebeten, sich einfach mal die Anzeige anzuschauen. Acht
Züge sind aufgeführt, alle mit Anmerkungen im „Kleingedruckten“:
Einer fährt gar nicht, fünf haben Verspätungen zwischen 20 und 90
Minuten und die beiden restlichen verkehren in anderer
Wagenreihenfolge. Andere Folge? Anders als was? Die verkehren doch
mehr als jedes zweite Mal in anderer Wagenfolge. Also gibt es gar
keine eigentliche Wagenfolge? Oder ist die abweichende die
eigentliche? Und zeigt der Wagenstandsanzeiger nur die abweichende
an? Ich frage die freundliche Dame auch noch, ob es nicht schrecklich
ist, bei einem Unternehmen arbeiten zu müssen, bei dem acht von acht
Produkten fehlerhaft sind. Die Bahnerin sagt ganz leise, haucht fast:
„Es gibt auch gute Tage.“ Nicht die Tage wie diese! Tage ohne
Unendlichkeit?
Ich habe mal der Endlichkeit,
Vergänglichkeit, vielleicht auch Unendlichkeit im Wein nachspüren
wollen und mir drei gut gereifte Pechsteine aus Forst aufgezogen.
Wobei, als ich in den Zug einstieg, war es noch der aktuelle Jahrgang
. Nein, im Ernst, es gab einen
2002er Pechstein GC aus dem Hause Bürklin-Wolf, einen 2004er GC aus
gleichem Haus und einen 2005er Pechstein Großes Gewächs trocken von
Bassermann-Jordan. Als erstes habe ich den 2002er geöffnet:
Gereifte Rieslingnase, mineralisch,
durchaus noch mit Zitrusfrüchten unterwegs. Nur ein verhaltener
Firneton, ein wenig Honig. Mit etwas mehr Sauerstoff im Glas kommt
dann vorübergehend doch ein etwas deutlicherer Alterston hervor, das
geht dann schon in Richtung Tabak, gibt sich aber erstaunlicherweise
nach zehn, zwölf Minuten wieder. Typisch gereifter Riesling, der
kann mit Luft auseinanderfallen oder auch „jünger“ werden.
Am Gaumen zunächst erstaunlich cremig,
warme Aprikose, durchaus auch noch mit reichlich Zitrusaromen
unterwegs. Orange, die kurz vor dem Abgang mehr in Richtung Zitrone
marschiert, weil eine etwas spitzere Säure in den Vordergrund tritt.
Daran merkt man ein wenig das Alter, die Säure kommt stärker
heraus. Im Abgang dann ein wenig schlanker und vor allem, na ja,
„müder“ würde ich nicht sagen, das wäre zu negativ. Aber
zumindest etwas weniger frisch. Mal schauen, wie sich das mit Luft
weiter entwickelt, ob er auch am Gaumen noch einmal wieder auffrischt
oder eher abbaut.
In der Zwischenzeit schaue ich mir den
2004er Pechstein an. Puh, auf den ersten Schnupperer wirkt er noch
gereifter als der 02er. Starker Tobak, um das endlich mal in einer
Weinbeschreibung unterbringen zu können. Firne, ein quittiger Ton.
Sehr schnell kommen dann feine Kräuternoten hinzu, kühl, leicht
minzig.
Am Gaumen im Anklang auch diese Quitte,
die recht süß und weich auftritt, fast eine unquittige Quitte. Dann
aber sofort die Pechsteinmineralik. Erst nach zwanzig, dreißig
Sekunden merkt man, wie massiv und tiefgründig sie ist. Die Kräuter
aus der Nase sind ebenfalls wieder mit von der Partie. Oder von der
Party, denn dieser Wein ist nach wenigen Minuten im Glas schon ein
richtiges Fest. Nur den Tabak finde ich nicht wieder, ich glaube das
liegt daran, dass auch dieser Wein mit mehr Luft jünger geworden
ist. Statt des Tabaks bringt er – wo gibt es das sonst beim
Riesling? – eine dezente Haselnussigkeit und sogar einen gar nicht
mal so zurückhaltenden Anklang von Rosine an die Geschmacksknospen.
In der Nase bleibt aber der Tabak, der am Gaumen verzweifelt und
erfolglos gesucht wird. Schön mürbe wirkt dieser Tropfen, jetzt im
perfekten Reifezustand. Großartige Länge, mit noch reichlich Druck
im Abgang, wo vor allem Nuss, Rosine, die steinmehlige Mineralik und
– nicht zu vergessen – die Kräuter im Vordergrund stehen.
Mal schauen, wie der 2002er nach dem
2004er wirkt. Er tut sich da keineswegs schwer, steht noch immer sehr
schön, obwohl im direkten Vergleich ein wenig mehr Alterstöne
hervorkriechen. Mineralischer ist er inzwischen geworden, der 2002er,
und damit ein echter Pechstein. Ich bewundere diesen Wein, der von
Viertelstunde zu Viertelstunde mit Luft im Glas und in der Flasche
immer besser wird.
Nun aber zum 2005er! Der eine deutlich
jüngere, grüngelbe Farbe aufweist. In der Nase finde ich ihn erst
einmal sehr verhalten. Voll auf der Mineralität, aber fast ein wenig
schweflig, wie passt das denn zu einem Siebenjährigen? Der sollte
eigentlich aus dem Windelalter heraus sein. Zündholzköpfe finde ich
da auch. Mit etwas Wohlwollen sind daneben ein paar waldmeistrige
Kräuter zu finden. Dann aber auch ein seltsam brotiger Ton.
Das versprach für den Gaumen nicht
sonderlich viel. Aaaaaber, zurücktreten von der Bahnsteigkante, am
Gaumen hat der Kerl eine völlig überraschende Cremigkeit, die von
Minute zu Minute zulegt. Dann natürlich auch hier die großartige
Pechsteinmineralik, zum Glück völlig unschweflig, das ist reiner
Granit mit einem ziemlich ungewohnten kleinen kreidigen Einschlag.
Auch die Kräuter trommeln im Hintergrund ein wenig. Vielleicht ist
es auch eher ein Gitarrenbass, der immer präsent und prägend ist,
aber nie im Vordergrund? Allerdings hat der Wein erstaunlich wenig
Tiefgang, das wirkt alles nett. Aber die Säure und die zitrussige
Frucht, die reichen nicht sehr weit, die haben so einen kleinen
Guest-Star-Auftritt im Vordergrund, dann gehen sie ab in die Kulisse
und zeigen sich nicht mehr. Bleiben Mineralität, Cremigkeit und
Kräuter. Es fehlt ein klein wenig an fruchtiger Opulenz und auch am
Restzucker, irgendwie wirkt das zwischendrin doch fast spartanisch.
Na mal, sehen, vergleichen wir die drei
noch einmal direkt hintereinander. Nach dem 2005er kann der 2004er
nicht mehr ganz so gut mithalten, er hat im Glas mittlerweile sehr an
Nussigkeit zugelegt, das treibt ihn fast in Richtung Sherry. Der
2005er kann hingegen hinter dem 2004er sofort wieder wunderbar
bestehen, jetzt stört die etwas vordergründige Säure plötzlich
nicht mehr so. Der 2002er stellt den 2005er allerdings deutlich in
den Schatten. Es ist vielleicht nur eine Spur mehr Frucht und ein
etwas höherer Restzucker, eine Spur mehr Cremigkeit, ja, nur eine
Spur mehr, aber die entscheidende. Umgekehrt wirkt der 2005er direkt
hinter dem 2002er zwar noch immer ordentlich, aber bei weitem nicht
mehr so harmonisch und opulent.
Am nächsten Tag habe ich natürlich
noch einmal nachprobiert. Und, ganz beachtlich, der 2002er ist keine
Spur müder geworden, im Gegenteil, er bringt jetzt noch etwas mehr
aprikosige Frucht heraus. Der 2005er hat ein wenig abgebaut und der
2004er seinen Leistungsstand zwischen feinem Wein und deutlichem
Sherryton gehalten. Macht in Willipunkten je 87 von 100 für den
2004er und den 2005 er und 92 von 100 für den 2002er.
Wer hätte das gedacht? Der zehn Jahre
alte trockene Pechstein hat mit Abstand gewonnen. Oder, um es mit Ede
Stoiber zu sagen: „Zehn Jahre, äh, Sie beginnen Ihre Reise
praktisch am Hauptbahnhof. Und nach zehn Jahren, äh, denken Sie nur
an Schall de Gaulle!“ Den Bürklin lasse ich mir künftig von der
Bahn liefern. Dann kommt der perfekt trinkreif hier an.
Von der Bahn hörte ich inzwischen,
dass das mit dem wagonlosen Schienenverkehr eine Ente gewesen sei.
Die Wagons bleiben. Aber die Schienen kommen weg. Und die Wagons
werden kleiner, so dass maximal vier bis fünf Personen hineinpassen.
Zudem setzt die Bahn auf ein Betreibermodell. Die Fahrgäste werden
die kleinen Wagons, die dafür eigens mit Motoren ausgestattet
werden, künftig selbst steuern dürfen. Dafür steht das Straßennetz
zur Verfügung. Damit geht auch die Verantwortung für Verspätungen
auf die Fahrgäste über. An Tagen wie diesen…
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