Willis Vierschänkentournee Teil 4 "Flocons de sel"

Weh-Geh-Weh Willis Gastro Werkstatt

Heute: Vierschänkentournee Teil 4




Das Beste zum Schluss? Ja, ich muss gestehen, die letzte Etappe meiner Vierschänkentournee hat mich fast noch mehr begeistert als die erste. Aber fangen wir mal vorne an. Die Waage hatte ich inzwischen längst weggeworfen, das verlogene Biest. Völlig unmöglich, dass ich immer weiter zunehme, wenn ich so heftig mit Messer und Gabel arbeite. Dreimal schon hatte ich mir Igelschweiß in fetten Tropfen auf die Stirn gearbeitet, irgendwann muss sich das doch auszahlen. Also zählt das gefühlte Gewicht. Und das verringert sich noch weiter, wenn man sich der Schwerelosigkeit der Stratosphäre nähert. Also rauf auf den Berg. Bei Megeve. Wo das Flocons de Sel in über 1000 Höhenmetern steht. Emmanuel Renaut kocht dort und hat neben seinen Salzflöckchen auch noch drei Michelinsternchen zusammen gesammelt. Das alleine macht neugierig.



Der erste Eindruck ist phantastisch, architektonisch erzählt das Haus die Geschichte der alten savoyardischen Bergbauernchalets nach, viel Holz, ausladendes Dach, warm und massiv. Gediegene Atmosphäre mit viel Stil, ein wenig wie bei den Haeberlins im Elsass. Da es Mittag war und ein spätsommerlich warmer Tag, konnte ich den Aperitif auf der Terrasse genießen, zwischen den zwanglos in die Berglandschaft drapierten Antiquitäten aus der Abteilung Chaletnostalgie. Offener Champagner in Weiß und Rosé von Roederer, gerne auch mit Jahrgang oder als Cristal, das lässt sich hören. Dazu gibt es sensationelle Amuses: Ein savoyardisches Bisquitbrot mit Bergblumenblüten, ein Küchlein aus schwarzem Reisteig mit frischem Klee, ein Beignet mit einer Füllung aus warmer geräuchter Milch. So zwanglos kann man Bezug zur den Bergkräutern und der Bergbauernmilch auch herstellen, da könnte sich die Osteria in Modena glatt eine Scheibe von abschneiden, ohne Beleherungen, ohne Dekonstruktion, einfach nur unglaublich wohlschmeckend, so dass direkt der „mehr-davon-Reflex“ einsetzt.




Der sich sofort potenziert als ich nach drinnen gehe und am Tisch zwei „Steinpilze“ vorfinde. Die natürlich keine Steinpilze waren, sondern, ja, was genau? Von der Konsistenz her erinnerte es an selbstgebackenen Mandelkrokant, hauchdünn ausgerollt und gebacken, in Steinpilzform und -farbe. Aber natürlich waren diese knusprigen Pilze nicht mandelig-süß, sondern schmeckten sie tatsächlich nach Steinpilzen, und das ungemein intensiv. Die Apotheose des Steinpilzes, unfassbar! Wer da neben die drei Sterne nicht noch einen vierten malt ist herzlos und unverständig.




Witzig auch die Präsentation des Brotes, das in einem ausgehöhlten Baumstamm serviert wurde, in den es so perfekte passte, als wäre es darin gebacken worden. Dazu feine Salzbutter aus Savoyen, direkt von Hof nebenan. Köstlich.


Das siebengängige Menü, für den Spottpreis von 85 Euro serviert, brachte dann einen Höhepunkt nach dem anderen auf den Tisch. Zunächst frische Wildpilze unter einem mit Amaretto aufgeschlagenen Eigelb. So eine Art Sabayon mit Pilzen also. Funktioniert perfekt, zumal oben auch noch ein paar Wildblüten drüber gestreut worden waren, die noch einmal die geschmackliche Komplexität erhöhten. Das ist es, was ich mir von der Hochküche erhoffe, wirklich innovative Ideen, Kreativität ohne Manieriertheit. Ich will Gerichte vorgesetzt bekommen, die ich nicht schon hundertmal so oder so ähnlich gegessen habe. Die nicht gewollt, sondern gekonnt zubereitet sind. Die mir keine Püppi anbiedern und kein Woody Allen wissenschaftlich erklären muss. Einfach nur auf den Punkt, dann spricht es für sich.




So zum Beispiel der zweite Gang: Teigloses Millefeuille von frischem Gemüse und Waldpilzen. Blätterteig ohne Teig? Ja, das funktioniert, die „Lasagne“ bestand einfach nur aus Füllung, unterschiedliche Gemüseschichten und dazwischen fein gehackten Pilzen. Auch hier wieder mit geschmacksintensiven Wildblüten verziert und mit einem Konzentrat aus Kräutern gewürzt. Als Krönung dann einen Strich Nussöl obendrauf, den ich am Tisch selbst dosieren darf. Der gibt genau den Kick, der den Unterschied zwischen sehr gut und Weltklasse ausmacht. Köstlich! By the way: Endlich mal etwas Veganes, das auch auf höchstem Niveau schmeckt.




Noch so ein Hammer: Die Fera aus dem Genfer See. Wir diskutierten ein wenig mit der deutschen Frau des Chefkochs, ob Fera denn nun ein Fellchen oder eine Renke sei, entschieden uns dann aber dafür, diese Frage offen zu lassen, so wie der Mund uns offen stand, als wir das Ding probierten. Butterzart, mit kräftigem aber elegantem Eigengeschmack. Der von dem Petersilienwurzelpüree und den Meerrettichtalern, mit denen der Fisch serviert wurde noch wunderbar unterstrichen wurde. Auch hier gab es als Gimmick wieder eine Sauce zum Drübergießen, eine Beurre Blanc vom Allerfeinsten, ganz leicht mit Zitrone angesäuert. Ich gestehe, dass es nicht allein die Notwendigkeit zur Intensivierung meines Bestecksports, sondern auch die pure Genusssucht war, die mich dazu angestachelt hat, den Rest einfach mit dem Löffel aus der Sauciere zu futtern.




Weiter mit Fisch, nun kamen Hechtklößchen mit etwas Störkaviar und, wie die deutsche Patronne wörtlich sagte „gepufftem Reis“. Nur ganz kurz dachte ich an Püppi, dann fürchtete ich eine Sekunde, nun kämen sie, die in der Spitzengastronomie kaum mehr vermeidbaren Molukelarfürze, die Brausekrümel und dieser Mist. Doch der erste Löffel beruhigte sofort, diese tatsächlich ein wenig an den in Nepal gerne einmal servierten aufgeklopften rohen Reis erinnernden Krümel hatten in der Textur des Gerichts eine wichtige Rolle. Neben dem sehr weichen pürierten Hecht, der ungemein kräftigen für den Gaumen aber nicht griffigen Sauce und dem fast flüssigen Kaviar brachten sie die Bindung der einzelnen Elemente, hielten sie die einzelnen Geschmacksnuancen länger am Gaumen.




Es folgte eine geräucherte Taube mit Waldgemüse und Selleriepüree. Als Nichtraucher brauche ich Räucherung in der Küche eigentlich eher nicht. Hier war das aber perfekt gemacht. Dass diese Taube mit Rauch in Berührung gekommen sein sollte, wäre mir ohne die Speisekarte nie in den Sinn gekommen. Tolle Fleischqualität, voll auf dem Punkt. Das Waldgemüse kam als eine Art kräuterverkrusteter Taler daher. Etwas petersilienlastig vielleicht, es harmonierte aber perfekte mit den Waldpilzen und –gemüsen, auf denen die Taube ruhte. Das klingt jetzt so, als wären in fast jedem Gericht Pilze verarbeitet gewesen. So richtig fällt mir das aber erst in der Nachbetrachtung auf, durch die Varianten der Zubereitung und die Stimmigkeit der Kompositionen ging es am Tisch völlig unter. Auch die Taube war riesengroßes Kino.




Dann der Käse, ein toller Wagen. Ausschließlich Käse aus der Region, richtig so, ich sage es immer wieder. Davon etwa 20 und alle voll auf dem Punkt. So muss es sein!


Als Dessert kam dann ein köstliches Blanc Manger mit Waldeis – nein, das Eis war nicht aus Pilzen gemacht, keine Sorge, eher mit Piniennadelaromen und einem Hauch Kräutern zubereitet – dazu perfekte Walderdbeeren, eine wunderbare Komposition. Zum Abschluss folgte noch ein ganzer Reigen von Mignardises. Zum Beispiel dreierlei Schokoladen mit unterschiedlichen Gewürzen, jeweils in der Form des verarbeiteten Gewürzes serviert. Dann Geleefrüchte, Aprikosenküchlein, ein Schoko-Minz-Erfrischungsstäbchen, schmalzgebackene Beignets und schließlich zwei Obstbrandkügelchen. Alles ungemein intensiv im Geschmack. Ein Ritt quer durch einige Klassiker der französischen Patissierskunst, und das auf höchstem Niveau.



Nach nur einem Besuch müsste man vielleicht noch etwas vorsichtig sein, dieses Restaurant gleich in den Olymp der Allerbesten zu erheben. Doch waren auch Service und Einrichtung so rundum perfekt, dass es schwer fällt sich vorzustellen, es könne sich um einen versehentlichen Ausreißer nach oben handeln. Nein, in Megeve finden wir ein echtes Gesamtkunstwerk vor und Renaut gehört in dieser Tagesform auf jeden Fall in die Ducasse-Liga der besten fünf, sechs Köche des gallischen Hexagons. Klarer Sieger meiner kleinen Vierschänkentournee, knapp vor dem Vieux Puits.





Nun brauche ich nach all dieser Bewegung erst einmal Erholung, der Winterschlaf naht und ich sollte mir vorher vielleicht noch etwas Speck anfuttern. Ja, wenn ich so drüber nachdenke, ich kriege gerade so ein ganz leichtes Hungergefühl…

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