Weh-Geh-Weh Willis Gastro Werkstatt Heute: Vierschänkentournee Teil 40: Histoires, Paris
Ist Eurowings eigentlich Rechtsnachfolger von Air Berlin? Jedenfalls hätten die nicht so viel Personal und Maschinen von denen übernehmen sollen. Etliche Stunden Verspätung hatte mein Flug nach Paris bereits. Natürlich stand niemand am Gate, der irgendwas wusste oder gar die schwierige Frage hätte beantworten können, ob der Flug denn überhaupt noch gehen würde oder ob ich - wie beim letzten Mal - die vier Stunden absitzen würde, um danach dann freundlich in die Maschine gebeten zu werden und dort eine Ansage der Piloten zu vernehmen, der Flug werde nicht mehr stattfinden, weil die Leitstelle das so entschieden habe. Nö, klar, ist ja auch viel schöner, das Auto dann erst um 22 Uhr anzumieten und gut ausgeruht aber atemlos, durch die Nacht, bis 3:30 Uhr über die Autobahnen zu rasen.
Also versuchte ich, mich diesmal frühzeitig schlau zu machen. Hotline von Eurowings, läuft super. Und zwar vor allem die Pausenmusik. 28 Minuten lang. Ich schaltete nach 14 Minuten auf laut und erfreuete die Mitwartenden mit der dargebotenen Nummer. Sie erinnerte an eine Mischung aus spätem Modern Talking und früher Kreissäge. Die Mitwartenden hätten mir jetzt gerne diese Blicke zugeworfen, die töten können. Doch die hatte die Security zusammen mit den gefährlichen Saftfläschchen und den noch gefährlicheren Nagelfeilen längst einkassiert. Was sind nicht alles schon für Flugzeuge mit Nagelfeilen zum Absturz gebracht worden!
Ich gab nach und schalte die Hotline"musik" wieder auf leise. Dann war plötzlich doch noch jemand dran. Eine Frau, vom Akzent her irgendwas Richtung Ostpolen. Vom Intellekt her irgendwas Richtung Pisa-Amateuroberliga. Maximal. Immerhin konnte sie lesen. Und bot mir an, mir vorzulesen, was auf der Eurowings-Homepage stehe. Auf Vorhalt, das könne ich selbst lesen, der Anruf diene ja eher dazu, den Verlässlichkeitsgehalt der dort gegebenen Auskünfte zu verifizieren - musste ich erst mal erklären, was verifizieren heißt. Dann bot die Dame an, sie könne jemand fragen. Top, die Wette gilt.
Vier weitere Minuten Warteschleife. Und Verwunderung darüber, dass man sich ernsthaft erdreistete, in den Pausen der Warteschleifenmusik dafür zu werben, ich möge doch gleich noch ein paar Flüge mit Eurowings buchen. Klar, die tun ja gerade alles, sich mir zu empfehlen. Hupps, da ist die Pisa-Verliererin schon wieder dran. Ja, sie habe sich erkundigt. Man habe ihr gesagt, auf der Website stehe, dass der Flug heute noch gehen werde. Auf Vorhalt, soweit seien wir doch schon gewesen, bot sie spontan an, mir noch mehr vorzulesen. Diesmal aus ihrem Computersystem. Da stehe, der Flug sei annulliert. Auf Nachfrage, wie das dazu passe, dass er noch fliegen werde, war das angestrengte Nachdenken am anderen Ende der Leitung (vermutlich in Neu Delhi) deutlich zu hören. Ach nee, der annullierte, das sei der um 14 Uhr gewesen. Bei meinem Flug gebe es einen Defekt, der repariert werden müsse. Auf Nachfrage, ob der denn schon repariert sei und die Maschine bereits wieder im Einsatz, hörte man förmlich wie Dame in Neu Delhi am schwarzen Gürtel im Schulterzucken arbeitete. Sie müsse noch einmal nachfragen.
Weitere sechs Minuten Warteschleife. Die Musik konnte ich schon mitsummen. Ich spielte an dem Knopf, mit dem man das Handy auf laut stellen kann. Es bildete sich eine mitwartendenfreie Zone um mich. Ich war trotzdem stolz auf mich. Denn den Text, mit dem die supergünstigen Flüge nach Bangkok, Dubai und New York angepriesen werden, hatte ich bereits so gut memoriert, dass ich ihn zu meinem Entsetzen auswendig konnte. Überzeugender wurde die Botschaft durch das Wiederholen trotzdem nicht. Es geht kein Flug nach nirgendwo..
Nach sechs Minuten Warteschleife folgte das Knacken, das vorher bereits zweimal angekündigt hatte, dass die Verbindung zur Osteuropäerin zustandezukommen im Begriff sei. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt. Würden wir Berlin noch verlassen können? Sollte ein Wiedergänger von Genscher ans Gate marschieren, "ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass heute ihre Ausreise..."? Würden Hanni und Nanni auch dieses spannende Abenteuer bestehen? Ein echter Cliffhanger!
Noch ein Knacken und bratzel, die Verbindung war abgestürzt. Inzwischen stand wieder eine von global ground am Gate, das ist diese Company, die die Flugabfertigung für alle Airlines durchführt. Sie erzählte einigen der Mitwartenden, die bis hierhin schon gut eine Stunde am Gate ausgeharrt hatten, dass sie sowieso nicht mehr mitgenommen würden, weil sie in Reihen mit höheren Kardinalzahlen als 25 säßen und die ursprünglich vorgesehene Maschine durch eine ersetzt worden sei, die nur 25 Sitzreihen habe. Gut, sicher, den Begriff Kardinalzahlen hatte sie natürlich nicht verwendet, sie hatte eher etwas gestammelt, dass "die mit 26 oder mehr Sitzreihen" nicht mitkommen. Sie zuckte merklich zusammen als ich vor mich hinmurmelte, nun müsse ich wohl doch einen töten. Unauffällig bewegte sie sich mit dem Rücken zur Wand in Richtung Sicherheitskontrolle. Ich schob ein gemurmeltes "wo kriege ich jetzt bloß eine Axt her?" nach und sah wie die Dame von global ground weiter an Geschwindigkeit aufnahm. Wenn es so weitergehen sollte, würde sie bald abheben. Ich dachte drüber nach, ob ich aufspringen sollte, vielleicht könnte ich sie nach Paris steuern. Aber sie hatte keine Gepäckfächer für mein Köfferchen.
Einige weitere Stunden tat sich absolut gar nichts. So langsam kam mir das Ganze schleyerhaft vor.
Irgendwann flog die Maschinen dann aber doch noch. Überraschung, Überraschung! Und setzte mich in Paris ab, wo am nächsten Tag das „Histoires“ von Matthieu Pacaud auf mich wartete. Wenn der Name etwas im Schädel des geneigten Lesers klingeln lässt, dann aus gutem Grunde. Matthieu ist der Sohn des großen Bernard Pacaud, der sich im Ambroisie ein paar Hinkelsteinwürfe weiter im Zentrum von Paris drei Michelinsterne erkocht hat. Matthieu schickt sich nun an, es dem Vater nachzutun und hat mit seinem Histoires im Jahr 2016 aus dem Stand bereits zwei der begehrten Sterne eingeheimst. Einen weiteren hat er im selben Jahr für das Hexagon unter dem gleichen Dach bekommen, etwas klassischere Küche, nicht ganz so modern wie das Histoires ausgerichtet. Und, damit es nicht langweilig wird, hat der Himmelsstürmer mit dem le Divellec noch ein drittes Restaurant in Paris übernommen, ein Traditionshaus, das in letzter Zeit etwas fußlahm gewirkt hatte. In den kommenden Monaten soll das Apicius zur Sammlung hinzukommen, ebenfalls ein traditionelles Gourmetlokal, das unter Jean-Pierre Vigato lange Zeit zwei Sterne gehalten hatte, zuletzt aber auf einen Stern abgesunken war.
Hoffentlich verzettelt sich Pacaud Junior da nicht. Ich wollte der Sache mal auf den Grund gehen und mit dem Histoires den Anfang machen.
Die Einrichtung wirkt schon einmal mindestens so modern, wie die Küche es sein möchte: Das Restaurant ist im Untergeschoss eines ehrwürdigen Immeubles in der Avenue Kleber untergebracht, nur hundert Meter vom Trocadero, also fast unter dem Eiffelturm. Den Weg in den Keller weisen orangeleuchtende Pfeile. Der Gastraum besteht aus einem ebenfalls sehr hellen Gang, in dem Pfeiler mit Leuchtschriften ein wenig sehr gewollt wirken, und einigen Nischen, die im Kontrast dazu so dunkel wirken, dass ich ganz froh war, ausnahmsweise mal alleine unterwegs zu sein. Die beste Igelin von allen hätte ich ohne Nachtsichtgerät wahrscheinlich nicht ausmachen können. Graue Teppiche, dunkler Holzboden, grün-türkise Bänke und recht wild gestreifte Stühle, im Zebralook, schwarz-weiß.
Ungewöhnlich der Platzteller – eine Art Fladen mit Löchern darin, die den Blick auf ein Blumengesteck freigeben. Oben sind unauffällig Aussparungen vorgenommen, in die einige der Amusetellerchen eingesetzt werden. Witzig und kreativ!
Als erstes wird ein „detox“-Cocktail gereicht, der Passionsfrucht enthält, etwas Kokos und Gemüsewasser. Hmm, schmeckt weder nach Frucht, noch nach Kokos, noch nach Gemüse, eher ziemlich streng nach Nelke. Wirkt so, als müsse das extrem gesund sein, denn Freude kann man daran eher nicht haben.
Weiter geht es mit Jakobsmuscheln mit Dilleis in einem kleinen Brandteighörnchen. Die sehr feine Süße des Hörnchens arbeitet Hand in Hand mit der kräutrigen Würze des Dills, nur die Muscheln werden etwas an den Rand geschoben, von den restlichen Komponenten ein wenig überwältigt. Besser macht es da die Stopfleber mit Lebkuchencroustillant. Großartige Leber, die eine tolle Würze mitbringt, dazu eine wunderbare Süße, die sich mit den Honigkuchenaromen der Kruste bestens paart. Insgesamt sehr stimmig, vielleicht eine kleine Spur zu süß. Auf diesem hohen Niveau will ich aber nicht klagen.
Die Amuses kamen so schnell, dass ich noch gar keine Zeit hatte, mich richtig der Champagnerauswahl zu widmen. Glasweise ist das sehr konservativ, Deutz rosé und Roederer weiß. Na gut, da kann man immerhin nicht viel falsch machen, also her mit dem Roederer. Ansonsten glänzt die Weinkarte mit den üblichen Phantasiekoeffizienten auf Bordeaux und Champagner. Wie so oft gibt es fairere Aufschläge auf die Weißen von der Rhone und aus dem Elsass. Generell ist man preislich kein Kind von Traurigkeit, sondern eines von Pacaud. 6 bis 7 Gänge schlagen mit 250 bis 350 Euro aufs Portemonnaie.
Noch vor dem Roederer fährt die Küche weitere Amuses auf. Eine Meerspinne in Tempurateig, nicht wirklich herausragend, etwas frühlingsrollig, wobei natürlich eine Spur feiner und dezenter als die gemeine Loempia. Die gekochte, geschnetzelte, im Panzer servierte Wollkrabbe vermag mich auch nicht wirklich zu begeistern, etwas belanglos. Dafür überzeugen Zucchini, Krebs und korsische Kräuter, weil sich hier die Komponenten ergänzen, sich gegenseitig hervorheben und die Dosierung der einzelnen Aromen perfekt passt.
Kaum sind die Teller abgeräumt, fährt auch schon das erste vollamtliche Gericht des Menüs vor, der Kaisergranat mit Kaviar und Anissahne. Eine Komposition, die mich ein wenig zwiespältig hinterlässt. Anis kann ja recht brutal werden, während die gute alte Jakobsmuschel eher mit dezentem Eigengeschmack unterwegs ist. Ein feines Dosierhändchen ist also Pflicht. Hier hat die Verbindung nur mittelprächtig funktioniert. Klar, die Muscheln sind superb, doch tun sie sich gegen den Anis ziemlich schwer, der auch im Abgang die Lufthoheit an den Papillen nicht abgeben mag. Nur zwischendrin gibt es einen Moment, wo der Kaviar richtig Betrieb macht und mit seiner leicht fischigen Salzigkeit die Muschel so unterstreicht, dass sich ein phänomenaler Moment der perfekten Harmonie ergibt. Ach Augenblick, verweile doch!
Irgendwie will die Küche offenbar die tags zuvor von Eurowings verlorene Zeit wieder reinholen. Kaum ist der Teller mit den Coquilles abgeräumt, kommt bereits der nächste Gang, das Hühnerei mit milden Zwiebeln und Steinpilzen. Konkret findet sich da eine Art Eiweißschaum mit Steinpilzaroma, darin sechs Eiweißnocken, fast wie Iles Flottantes schwimmen sie auf zweierlei Saucen von Eigelb und Steinpilzen. Dazwischen ein paar Champignonscheiben und etwas Würzklee, obenauf auf jeder Nocke ein Cracker. Wow, das ist ein Volltreffer! Man muss alles miteinander vermengen, dann maximiert man die Explosion am Gaumen. Erdig-pilzig, salzige Noten von den Steinpilzen, dann das Cremige, Schaumige des Eises und noch einmal Salzigkeit und zugleich ein interessanter Kontrast in der Textur durch die Cracker. Ein facettenreiches Spiel von Aromen, Aggregatzuständen und Konsistenzen. Perfekt!
Der Maitre saust außer Atem am Tisch vorbei und ist schon wieder auf dem Sprung, in die Küche zu sprinten und mir den nächsten Gang zu bringen. Dabei bin ich noch nicht einmal so lang im Lokal, wie es dauert, sich einmal durch die Eurowings-Warteschleife zu tanken, also um die 20 Minuten. Ich versuche, den Mann einzubremsen, ja, der Igel mag so aussehen, als stünde der Winterschlaf unmittelbar bevor, aber sooo eilig ist es dann doch nicht. Ich habe schon in der Schule keinen Ehrgeiz entfaltet, irgendwelche Ehrenurkunden bei Bundesjugendspielen einzuheimsen, da brauche ich auch keinen schwarzen Gürtel in Speed-Völlerei! Hilft alles nix. Die Seezunge mit Kalamar und Vin Jaune Sauce steht schon vor mir, bevor das letzte Stück Steinpilz zuende gekaut ist. Eine wahrlich herausragende Komposition, eine Seezunge prachtvollster Güte, nicht ganz durchgart, halb-Sushi, mit einem Hauch Orangenblüte verfeinert. Dazu die sehr jodig-nachdrücklichen Tintenfischstückchen als Turbolader. Die leicht gummiartige Textur stört zwar ein wenig, geschmacklich geht die Sache aber perfekt auf. Dazu eine grandiose Sauce, im Kern Beurre Blanc, mit Vin Jaune verfeinert und mit Sahne als Geschmacksträger perfekt aufmontiert. Großes Kino, das muss bis zum letzten Tropfen aufgetunkt werden. Dafür hat die Küche zum Glück ein hausgemachtes Baguette bereitgestellt, ein wenig zu dunkel vielleicht, auch nur eine Sorte Brot durch den ganzen Abend, aber hier passt es ziemlich gut. Der zweite Gang am Stück, über den ich auch einen dritten Stern gehängt hätte.
Der Kellner trainiert noch immer für Olympia, er spurtet mit dem leeren Teller in die Küche und rast im versammelten Galopp zurück, um mir einen „Trou Normand“ auf den Tisch zu stellen. Also einen dieser normannischen Zaubertränke, mit denen zwischen den Gängen opulenterer Festmähler auf wundersame Weise Platz im Magen geschaffen wird. In diesem Fall eine Mixtur aus Quitte, Wacholder und Gin. Ja, das passt ganz gut, birnig-quittige Frucht, würzige Wacholdernoten, das ganze halbgefroren, dazu die leichte alkoholische Schärfe des Gins. Sehr interessant, davon hätte ich gerne einen kräftigen Schluck genommen als ihn das kleine Gläschen hergab.
Diesmal schaffte der Service es nicht mehr, auch nur das leere Glas des normannischen Lochs abzuräumen, so schnell musste das Hauptgericht vorgelegt werden, die Ente mit Rose, Koriander und Piment mit weißen Rübchen, die wie eine Tarte Tatin angerichtet waren, also geschichtet und fast karamellisiert. Dazu ein extrem kräftiger Gewürzjus. Die Ente hatte ich auf Nachfrage des Service rosa geordert. Sie kam eher rot als rosa, na klar, es gab in diesem Parforceritt wohl kaum Zeit, sie in der Küche richtig garen zu lassen. Allerdings spiegelte sich die mangende Garung in einer gewissen Zähigkeit wieder, das war nicht auf dem Punkt. Andererseits: Quelle Sauce! Einreduziert ohne Ende, dicht und wunderbar saftig. Hach, ein Gedicht wie eine Achterbahnfahrt, denn so genial die Sauce auch daherkam, die auf die Ente gestreuten Gewürze waren dann schon wieder zu viele und zu intensiv. Der Maitre sagte deswegen auch gleich – wenn Du weniger Dröhnung willst, räume einen Teil der Gewürze einfach herunter. Wollte ich gerade tun, da habe ich gemerkt, dass die gnadenlos einreduzierte Sauce nach diesen Gewürzen geradezu schreit. Die weißen Rübchen dazu wirken eher sinnfrei, die gekochte Kumquat erst recht. Ein Gang, der einen hin und her reißt und am Ende eine gewisse Ratlosigkeit zurücklässt. Immerhin kriege ich dazu ein Glas Chateau Dassault 2009, der ist sowieso grandios und passt hierzu perfekt.
Beim Käse war ich nun eigentlich drauf gefasst, dass man mir diesen aus Gründen der Zeitersparnis im Stile einer fliegenden Untertasse aus der Küche auf den Tisch werfen würde. Na, nicht ganz. Abgestoppt dauerte es nach dem Abräumen des Hauptgangs drei Minuten und elf Sekunden, bis mir ganz hektisch ein Tellerchen gebracht wurde. Eine Käseplatte gehört nicht zu den Assets des Hauses, die Käseauswahl nimmt nicht der Gast vor, sondern die Küche. So kommen zwei recht reife Ziegenkäse, die mir gut gefallen, die aber sicher nicht jedem schmecken dürften. Und ein sehr stalliger Kuhklotz, der im Zweifel niemandem schmecken dürfte, der schon mal richtigen Käse kosten durfte. Dazu wird eine recht kantige Olivenpaste gereicht, die zu keinem der Käse wirklich passt. Ich esse in Zeitlupe, erkläre dem Kellner noch einmal, dass ich nicht auf der Flucht bin und mich sehr freuen würde, wenn die Desserts nicht auch im Stakkato serviert würden und lasse ihn richtig leiden, weil ich fast eine halbe Stunde an den drei Käsen herumknabbere. Kurz bevor er kollabiert, habe ich ein Erbarmen und ließ ihn abtragen.
Den Dessertreigen eröffnete keine Minute nach Abräumen der Käsereste eine Komposition aus Feigen, roter Sauce, Sahne und Knusperkeks. Nett, aber etwas harmlos, zu wenig Interaktion zwischen den einzelnen Elementen. Auf den zweiten Bissen wird das etwas besser, nur den vom Sommelier dazu empfohlenen Coteaux du Layon darf man auf gar keinen Fall mit dem Süßkram vermischen, er tötet Feigen wie Sauce zuverlässig ab. Alles miteinander eher ein Kapitel aus der Kategorie „braucht kein Mensch“.
Kein Problem, denn ich habe ja noch nicht richtig angefangen, davon zu essen, da steht schon das nächste Dessert daneben, bekommt der Maitre eigentlich Akkordzuschlag? Eine Kombination aus Apfel, Gurke und Sellerie. Angeblich haben wir hier Apfeleis mit Gurken- und Selleriecoulis vor uns. Hmm, das Eis selbst wirkt auch erstaunlich gurkig, wenn da Apfel drin ist, dann ist der bestens versteckt. Das passt auch nicht wirklich zu Coulis, ganz zu schweigen vom Layon, der sich mit den vegetabilen Noten grässlich beißt. Etwas besser wird das erst, als die Sache wärmer wird und Gurke und Apfel sich wenigstens ein Stücken vermählen.
Der Maitre wirft aus vollem Galopp ein weiteres Tellerchen auf meinen Tisch, diesmal sind Passionsfruchtmark und Kokoseis drauf. Tolle Sache, da sind Süße, Säure und Frucht sowie ein milchiger Kokoston in bester Balance, das Ganze bleibt fast ewig am Gaumen und dabei bis tief in den Abgang hinein wunderbar komplex und ausgeglichen. Sogar der Layon macht mit und packt noch ein leicht botrytisches Tönchen obendrauf. Das passt auch deswegen alles so gut, weil das Kokoseis fast ein Sahneeis ist. Der süße Oblatendeckel obendrauf mach die Sache noch etwas runder und gibt von der Textur her auch noch einen etwas knusprigeren Akzent hinzu.
Völlig ausgepumpt schleudert der Maitre nun noch ein Tellerchen mit Vanillecreme und Karamell hinzu. Das schaut aus wie Creme Brulee, ist es aber nicht. Der Karamell ist flüssig und in die Vanillecreme eingerührt. Genial, das kommt am Gaumen ungemein voll, sehr nachdrücklich und in einem perfekten Spiel von Vanille und röstigem Karamell. Der Layon hat dagegen keine Chance. Macht nix, trotzdem genial!
Nun kommt wieder etwas, mit dem ich gar nichts anfangen kann. Der Maitre hat sich von einem Assistenten ablösen lassen, liegt wahrscheinlich unter einem Sauerstoffzelt. Der Vertreter bringt mir einen Dialog von Schokoladen- und Avocadomousse. Tja, das ist nun keine kulinarische Innovation, auf die die Welt gewartet hätte. Das verbindet sich nicht, steht bis zum Schluss nebeneinander. Nicht schlecht, dass wir uns nicht falsch verstehen, aber halt auch nicht sonderlich gut. Das Fette der Avocado stört nicht nur, das nervt regelrecht.
Ich überlege, ob ich das Personal auf Hürdenlauf trainieren sollte und vielleicht ein paar Stühle in die Hauptrennstrecke stelle. Und wie ich noch überlege, rast schon der nächste Servicemitarbeiter heran und bringt einen Karottenkuchen mit Vanillesauce. Wieder fehlt mir die letzte Begeisterung, der Kuchen fällt unter die Kategorie „nothing to write home about“. Das macht die Vanillesauce immerhin teilweise wett, denn viel besser geht Vanillesauce nicht, wunderbar voll, dicht und dabei nicht parfümiert.
Inzwischen hatte ich die Stühle in den Gang gestellt, die Kellner waren ohnehin allesamt „a bout de souffle“, so dass die Küche den Schlussakkord vermittels eines Katapults auf den Tisch fliegen ließ, eine Kastaniencreme mit Mandarinen. Uff, vielleicht wäre ich ja noch nicht ganz so voll und deutlich offener für diese Wuchtbrumme gewesen, wenn man die einzelnen Gänge bis dahin etwas mehr hätte sacken lassen. So war die sehr fette Kastaniencreme eher aus der Abteilung Strafe denn eine Beglückung. Ich fühlte mich ein wenig wie eine Stopfgans.
Hintenraus flogen noch ein paar Mignardises auf den Tisch, die waren gar nicht einmal so schlecht. Eine etwas zu parfümierte Zitronenmadeleine, eine nette Mandel-Kirschen-Komposition und, das war klar das Beste, eine superbe Haselnuss-Karamell-Schokolade.
Ein Süßwein dazu wäre fein gewesen, aber das ist ziemlich schwierig, weil der Sommelier mir dauernd Mist anzubieten versucht, Kesselstadt halbtrocken als Dessertbegleiter? Geht’s noch? Die Entschuldigung ist immer dieselbe, es gibt „uns“ erst zwei Jahre, wir haben noch nicht die Tiefe in der Weinkarte. Hmm, die Höhe aber schon, bei den Koeffizienten. Und, mal ehrlich, ehe man sich nun auch noch mit le Divellec und Apicius übernimmt, sollte man vielleicht erst einmal diese Baustelle abräumen. Insgesamt habe ich viele interessante Ansätze gefunden, zwei, drei Dinge auch, die klar in Richtung dritter Stern gingen, deutlich mehr Teller aber auch, die eher bei einem Stern als bei zweien lägen. Insgesamt liegt der Michelin mit der Zweisternwertung wohl sehr richtig, wobei man fürs gleiche Geld in Paris auch schon in der Dreisternliga fürstlich tafeln kann. Etwas sehr selbstbewusst scheinen die Herrschaften Pacaud mir da zu sein. Mal ganz davon abgesehen, dass ich zwei Kragengrößen dicker rausgegangen bin als ich reinkam, weil ich soooo einen Hals bekomme, wenn ich dreimal sage, dass ich gerne etwas langsamer durchs Menü marschieren würde und die Küche dreimal aus vollen Anusbacken drauf scheißt.
Na ja, fast 90 Minuten war ich vor Ort, das reicht bei Eurowings nicht einmal, um die Passagiere „mit 26 oder mehr Sitzreihen“ nach Hause zu schicken. Während ich mir von der Airline etwas mehr Dynamik gewünscht hätte, wäre ich im Histoires ganz zufrieden gewesen, wenn ich am Ende des Abends nicht im Auftrag des Bundespräsidenten der gesamten Brigade das goldene Sportabzeichen hätte umhängen müssen.
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