Weh-Geh-Weh Willis Gastro Werkstatt Heute: Vierschänkentournee Teil 36: Franck Giovannini im Restaurant Benoit Violier



Genau, es gibt Gedanken, auf die man wohl nur kommt, wenn man mit einer Restfettn aufwacht. Das muss man für die nicht habsburgisch Vorbelasteten aus der geneigten Leserschaft vielleicht erklären - vom Aufwachen mit einer "Restfettn" spricht man nicht etwa, wenn man am Vorabend bei der Ü-30-Party gegen Ende der Feier noch das an der Bar übrig gebliebene hochadipöse weibliche Wesen vom rubensischen Phänotyp in den Igelbau abgeschleppt hat und des Morgens mit einer gewissen Verwunderung neben sich im Bett die Zwillingsschwester von Beth Ditto vorfindet. Vielmehr ist die "Restfettn" der zwischen Inn und Donau gängige Fachterminus für den Grad der beim mittäglichen Aufwachen noch verbliebenen leichten Alkoholisiertheit, wenn der Abend erst kurz vor dem Hellwerden geendet hatte und mindestens so feucht wie fröhlich gewesen war. Ein sofort unter Naturschutz zu stellender Begriff, der mir unendlich viel sympathischer ist als andere, ähnlich erklärungsbedürftige Vokabeln. Ich denke etwa an das unrühmliche "Straßenbegleitgrün" aus dem Schatzkästlein des Amtratsdeutsches, erfunden von einem mit Diplom im Extreme-Hosenträgering. Ja, das Straßenbegleitgrün, das gar nicht einmal grün sein muss, sondern im Winter auch mal braun sein kann. Der Vegetationsstreifen neben der Straße, der mich allzu einladend animiert, meine vierrädrige bayerische Hochtechnologie doch dort abzustellen, wenn wieder einmal kein Parkplatz zu finden ist. Ist natürlich verboten. Und für den Amtsrat wäre es zu einfach, schlicht ins Protokoll zu schreiben, man habe auf dem abgeranzten Rasenfleck geparkt, der sowieso schon völlig abgewetzt und demnach nicht mehr zu beschädigen gewesen war. Nein, der Herr Ordnungsamtmann lässt es sich angelegentlich sei vom Straßenbegleitgrün zu schwadronieren, als seien die drei Grashalme im Auftrag des Herrn unterwegs, mit der gleichsam hoheitlichen Aufgabe, die Straße auf ihrem Weg ins Nichts zu begleiten - gerade wie die heiligen drei Könige den Heiland auf dem Weg in die Welt. In der Hoffnung, mir mit dem an langen blonden Haaren herbeigezogenen Fachchinesisch einen erklecklich höheren Verwerflichkeitsgrad meines Tuns attestieren zu können.



Ich fürchte ich schwiff gerade ein wenig ab. An sich wollte ich referiert haben - um es mal in die vor allem im Rheinland gängige Nichtverlaufenseinsform gepackt zu haben - in welche Gedankengänge die Restfettn mein beschwingtes Igelhirn gehen ließ als, ja, als dieser Kerl neben mir sich umdrehte und mir seinen Rucksack kraftvoll in die Igelbrust rammte. Meine Theorie ist ja, dass der Rucksack Rucksack heißt, wer er von einem Sack getragen wird. Und zwar einem Sack, der sich ruckartig bewegt. Der mich an diesem Tag wahrlich nicht berückende Sack war vom Phänotyp her durchaus einem Stadtoberzerwaltungsrat nicht unähnlich, der in seiner Freizeit im ärmelbeschonerten Trainingsanzug auf dem in Liegeposition gebrachten Ausklappsessel fläzt und ausschließlich Steuerfachliteratur liest, jedenfalls wenn er sich nicht gerade mit dem Gendering der Straßenverkehrsordnung beschäftigt. Grauer Kampfpantalon, garantiert naturfaserfrei, Jacke aus echtem Kunstlederimitat, die schrundigen Füße in Socken mit C&A-Logo gewandet, die wiederum in formunschönen Sandalen stecken. Trägt er unter dem ruckelnden Sack einmal einen Anzug, der Sack aus der Stadtverwaltung, so wird am Ärmel noch das Fähnchen mit dem Logo des Herstellers verblieben sein, man will der Welt ja zeigen, dass man sich das leisten konnte, das teure Zeug von Carlo Colucci. Eventuell hängt auch noch ein Palomino-Pferd aus der Hosentasche.

Ich weiß es nicht, macht das Tragen von Rucksäcken eigentlich dumm? Oder tragen nur die Doofen Rucksäcke? Anlässlich der wenigen Gelegenheiten, bei denen sich der Igel unter das gemeine Volk mischt, sich etwa in öffentliche Verkehrsmittel wagt, stellt er jedenfalls fest, dass dieses Volk, soweit es Rucksäcke zu tragen beliebt, dieselben sehr gerne mit behenden Rumpfdrehungen in die nebenan stehenden oder sitzenden Menschen rammt, nach der Devise Heck schwenkt aus. Völlig gedankenlos, man dreht sich um als trüge man nicht den mit Steuerfachliteratur, einer in Schweinsleder eingebundenen Dünndruckausgabe der Straßenverkehrsordnung oder Wackersteinen befüllten Sack auf dem Rücken. Vielleicht spricht man ja deswegen vom gemeinen Volk? Möge das Volk gerne selbst entscheiden ob es strunzdumm oder hundsgemein ist, schließlich leben wir in einer Demokratie. Gemeingefährlich ist es jedenfalls, das rucksackbewehrte Volk - und wahrscheinlich sollte der Herr Stadtzerwaltungsrat mal eine Verordnung erlassen, nach der auf dem Rucksack Warnhinweise aufzudrucken sind - "Vorsicht, Aufsetzen führt zu irreversiblen Hirnschädigungen".





Einen Rucksack ganz anderer Art hat Franck Giovannini zu tragen. Seit Januar 2016 ist er Küchenchef des Restaurants Hotel de Ville in Crissier. Und steht damit am Ende einer Reihe von Küchenlegenden: Fredy Girardet machte vor Jahrzehnten den Anfang, als er den Ruhm des Hauses begründete, drei Michelinsterne erkochte. Und es als einer von bisher vier Köchen weltweit zum Ehrentitel "Koch des Jahrhunderts" gebracht hatte, der höchsten vom Gault-Millau verliehenen Auszeichnung. Ehrenbürger von Crissier wurde er danach und der Platz vor dem Haus ist bis heute nach ihm benannt.

Philippe Rochat folgte, der 1996 übernahm, die drei Sterne mit Leichtigkeit verteidigte. Und schließlich Benoit Violier, über den ich in dieser Kolumne vor etwas mehr als zwei Jahren berichtete. Er hielt die drei Sterne, modernisierte die Küche, führte sie zu neuen Höhen und nahm sich kurz nach meinem Besuch völlig überraschend das Leben (Kausalzusammenhänge bitte ich nicht zu unterstellen). Franck Giovannini, der schon unter Rochat und Violier zweiter Mann am Passe gewesen war, übernahm notgedrungen und leitet das Restaurant nun gemeinsam mit der Witwe Violiers. Noch immer heißt das Restaurant "Benoit Violier", die Verneigung vor dem Gatten und dem Vorgänger ist erkennbar. Man kann sich vorstellen, wie hoch der Druck gewesen sein muss, die drei Sterne erneut zu verteidigen und den illustren Vorgängern Ehre zu machen. Es gelang und natürlich war ich sehr neugierig zu sehen, ob sich etwas verändert hat.



Optisch hat sich nicht viel getan, Naturfarben, brauner Teppichboden, beigegraue Stühle, hellbraune Holzovale im Zentrum des Raumes dienen als Anrichten, moderne Kristalllampen, Orchideen in langgezogenen Gläsern, das wirkt alles sehr fein, elegant und trotzdem einladend und gemütlich. Die etwas sehr bunte Acrylmalerei an den Wänden wäre jetzt nicht unbedingt meines, aber über Kunstgeschmack muss man ja nicht diskutieren. Ich fühle mich wohl und mache erst einmal das, von dem schon in einer Fußnote auf den Steintafeln des Moses vermerkt war, dass man es beim Betreten eines guten Restaurants tun müsse - ich ordere ein Glas Champagner. Im Angebot ist der Rosé von Bollinger, na ja, das ist ein wenig phantasielos. Dazu aber ein Weißer von einem kleinen Winzer an der Côte des Blancs, den ich bisher noch nicht kannte. Der wird probiert und konveniert. Nur ein wenig zu kalt war er, man sollte den Champagner nicht unbedingt so lange im Eisbad aufbewahren, ich predige es immer wieder und immer vergeblicher.



Nachdem mein Dinnergefährte sich ein wenig verspätete war genug Zeit für erstens auch noch ein Glas Roséchampagner und zweitens einen vertieften Blick in die Weinkarte. Was für ein schönes Sortiment. Alles, was in der Schweiz und in Frankreich Rang und Namen hat, findet sich, zumeist aus besten Jahrgängen. Vor allem die Auswahl aus dem Elsass macht mir Freude. Solide Koeffizienten, für Schweizer Verhältnisse fast schon günstig, man kann ohne Reue auch eine wirklich schöne Flasche bestellen. Oder zwei.

Bevor die Spiele auf dem Teller beginnen, bittet der Chef meinen inzwischen eingetroffenen Mitesser und mich kurz in die Küche. Die riesig ist. Wüsste man nicht, was für ein Knochenjob die Kocherei ist, vor dieser Kulisse könnte man in Versuchung kommen, den Beruf zu ergreifen. Es gibt auch einen Tisch in der Küche, für die Gäste, die noch hautnäher miterleben wollen, wie die Köstlichkeiten hergestellt werden, die sie verzehren. Giovannini berichtet, dass er schon unter Violier in die Kreation der Gerichte sehr stark eingebunden gewesen war, so dass er sich rein technisch eher leicht getan habe, die Verantwortung zu übernehmen. Psychologisch seien es aber sehr harte Zeiten gewesen, zumal man bis heute nicht wisse, was Violier in den Suizid getrieben haben könnte. Man merkt dem Chef an, dass es ihm schwer fällt über den Tod des Freundes und Mentors zu sprechen, deswegen verlassen wir das Thema und die Küche schnell wieder.

Zurück in der Gaststube freuen wir uns dann am Amuse - Taschenkrebsfleisch mit Avocado, Zitrone, Radieschen und Avocadosauce. Dazu gibt es noch einen Crackerchen mit Taschenkrebsfleisch. Die einzelnen Elemente sind perfekt dosiert, Säure, Schärfe und die dem Krebsfleisch eigene leichte Mehligkeit verbinden sich wunderbar, ein paar Kräuterblättchen und würzige Veilchen geben noch eine Würznote dazu, großes Kino!


Nicht ganz so glücklich hinterlässt mich der Spargel mit Ei, Spargelsauce und Kaviar. Spargel mit Ei, das funktioniert eigentlich immer. Auch Kaviar mit Ei, das weiß man, das ist bekannt, das gilt längst als Klassiker. Also könnte das Ei vielleicht als Transmissionsriemen die Fischeier an das Gemüse heranführen. Hat sich wohl einer gedacht. Klappt aber nicht. Der Kaviar ist vom Geschmack her einfach zu fein, er kommt gegen den für sich genommen wirklich exzellenten aber eben auch recht druckvollen Spargel nicht an. Mehr noch, der Kaviar nimmt dem Gemüse die Frische, so dass der Spargel fast ein wenig wirkt als käme er aus dem Glas. Das klingt jetzt schlimmer als es ist, ich habe das alles mit großer Freude gegessen, aber halt den Spargel für sich und den Fischlaich danach.



Das machen die Morcheln gleich wieder wett, die den nächsten Teller schmücken. In reichlich Rahmsauce mit Lauch angerichtet. Da passt alles, die Sauce ist tiefgründig, fein genug, um die Morcheln voll zur Geltung zu bringen, mit einem Hauch Port und einen Schüsschen Cognac nehme ich an, aber nicht zuviel. Der Lauch schmiegt sich an, bringt eine gewisse Schärfe dazu, das passt wie Samt und Seide. mehr davon!



Interessant die Gemüseravioli mit Bohnen und Erbsen. Mit Kräutern und Blüten serviert. Fein, optisch sowieso ein Riesenhit, für meinen Geschmack aber ein wenig zu gemüsig, es fehlt eine würzigere Note, wie man sie mit einem Hauch Käse oder einer Zutat aus der Fleischabteilung hätte einbringen können.



Deutlich überzeugender der Wolfsbarsch in extrem einreduzierter brauner Selleriesauce. Mit knusprigem Maischip und ein paar Kapernblüten. Der Mais nimmt der Sauce etwas von ihrer Wucht und bringt die Verbindung zum zarten Fischgeschmack des Barsches. Ich werde nie verstehen, wieso der "Barsch" heißt, wo er geschmacklich doch alles andere als ruppig rüberkommt. Aber lassen wir das.



Weltklasse dann der Hummer in einer sehr feinen, tja, was eigentlich? Darf man die noch Bisque nennen? Oder ist der Begriff durch das eher mittelmäßige Zeug verbrannt, das man auf Jacques Weindeponie im Glas einkaufen kann? Sagen wir also lieber Hummerreduktion. Die mit Schwarzwurzelchips, Spinattempura, Gurke und Avacado spielt. Was für eine stimmige, atemberaubende Mischung! Insbesondere die Gurke macht mir Spaß, weil sie der fetten Avocado eine gewisse Säure gibt. beide zusammen setzen einen schönen Kontrapunkt zum Hummeraroma, das ja immer ein wenig ins Mehlige zu rutschen droht. Gurke und Avocado sind Leitplanken die das verhindern, sie lassen den Hummer in so einer Art Kasserolenbegleitgrün parken.



Noch besser die Taube in Kirschsauce mit gelben Karotten und Fruchtessigsauce. Wieder stimmt die Balance, wieder freut sich der Igel wie ein Schnitzel. Bei diesen Hauptgerichten sind wir mühelos auf Violierhöhe, gerne auch auf Girardetniveau, das ist besser kaum zu machen.



Zeit, den zweiten Magen aufzusperren, die Käseauswahl naht. Herrliche Sachen, mit besonderem Akzent auf der Region, so liebe ich das.



Den Dessertreigen eröffnet dunkle Schokolade mit Minze. Das passt immer, sonst wäre die Firma After Eight längst Pleite. Schwieriger ist es, das industrielle After Eight-Niveau deutlich zu überbieten, denn die Kombination kommt fast immer ein wenig plump rüber. So auch diesmal, das ist gut, mehr aber auch nicht.

Deutlich überzeugender finde ich die Kombination von Erdbeer und Rhabarber. Gariguette-Erdbeeren, sensationell intensiv im Geschmack, treffen auf ein perfektes Rhabarbereis. Die Süße nimmt dem Rhabarber die Gemüsigkeit, die Fruchtigkeit der Erdbeeren lässt ihn über sich selbst hinauswachsen, das mag nicht die originellste Kombination sein, selten bekommt man sie aber so perfekt vorgeführt.



Wer mag, bekommt danach noch Eis. Ich rate dazu, sich das nicht entgehen zu lassen. Vor allem das Nougateis! Siebter Himmel, wenn nicht achter. Ich kenne mich im Himmel noch nicht so gut aus, das hat noch ein paar Jahrzehnte Zeit.

Ein paar Mignardises machen den Abschluss, ja, ordentlich, aber da sind wir auf Seelevel, da ist noch reichlich Bergluft nach oben.




Insgesamt ein hervorragendes Dinner, für das man drei Sterne geben kann. Mit 390 Franken durchaus nicht billig, für die Verhältnisse der Schweiz aber deutlich weniger utopisch als ein einfaches Essen im unbesternten Lokal, wo man für den Hauptgang ja in der Regel auch schon 70 Franken investieren darf. Die Schuhe der drei Vorgänger sind groß, da muss Giovannini noch ein wenig hineinwachsen, vor allem könnte man die Schwankungsbreite reduzieren. Den Rucksack hat er mir aber nicht in den Magen gerammt, es war ein sehr schöner Abend. Ich werde auf jeden Fall wieder nach Crissier kommen.

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