Weh-Geh-Weh Willis Gastro Werkstatt Heute: Vierschänkentournee Teil 39: Atelier München



Seit sechs Wochen höre ich nichts anderer als „Sondierungen“, „Sondierungen“, „Sondierungen“. Alle sind ganz neugierig darauf, was wohl bei diesen Sondierungen herauskommen mag. Der Igel kennt Sonden eigentlich nur aus zwei Zusammenhängen. Zum einen sind das die Teile, die der Arzt einem in den Körper steckt, wenn der begründete Verdacht besteht, dass etwas gewaltig in Unordnung ist und ein Organismus so krank ist, dass er nur noch chirurgisch repariert werden kann. Zum anderen sind Sonden diese Teile, die in der Raumfahrt genutzt werden; die man also zum Beispiel auf den Mond schießen kann. Und irgendwo im Spannungsfeld zwischen krank und auf den Mond schießen bewegt sich auch die politische Klasse in Berlin. Angela Seehofreiter sondiert sich endlos den Wolf(gang Kubicki), ohne dass Zählbares erreicht würde. Man kann als Bürger kaum dagegen ansaufen, zumal es im Lokal immer länger dauert, bis der nächste Wein kommt – Personalknappheit dank Seehofer, die berühmte Ober-Grenze.

Und was wurde bisher erreicht? Ausstieg aus der Flüchtlingsverbrennung? Aber nur mit Übergangsfristen für Ostdeutschland! Schluss mit dem Soli? Na klar, das wäre der von den Grünen gewünschte Braunkohleausstieg für die Nazis in den neuen Ländern! Dieselautos nur noch bis zu 800 Kubickizentimeter Hubraum? Politiker bekommen weiter bedingungsloses Grundeinkommen, oder war das grundloses Bedingungseinkommen? Und überhaupt, wer kriegt welche Ämter? Endlich ein Platz an der Sonde für Jürgen Trittin? Bundesministerium der Finanzen (BMF) an Jens Spahn? Super-Bundesministerium für Wirtschaft, Internet, CHaostheorie und Schwarzweißfotos an Christian Lindner (BMWICHS)?

Ehrlich gesagt, mich interessierts so langsam nicht mehr. Ich war auch sondieren, mehr so mit der Raumfahrtssonde, denn ich wollte abklopfen, ob das „Atelier“ von Jan Hartwig den dritten Stern verdient hat, den die Auguren ihm seit Monaten verheißen. Also auf nach München, in den Bayerischen Hof!



Ein Wohlfühlort, denn der etwas barocke immer eine Spur zu laute Pomp des Hotels endet an der Eingangstür des Restaurants und weicht einem zwar gediegenen, doch zugleich auch gemütlichen, immer stilvollen Ensemble. Ein einfacher weißer Holzrost an der Decke, Wände in einem dezenten Bronzeton, vor den Fenstern auch noch einmal Holz, sehr puristisch, kaum Kunst, kaum Bilder an den Wänden. Grau-orange Tischdecken und Sessel. Auf dem Tisch nobler Minimalismus – eine Granitplatte als Platzteller, zwei rote Nelken, eine Kerze, mehr braucht es nicht. Mir gefallen auch die uralt wirkenden Beistelltischchen, die vermutlich Maßanfertigungen neuesten Datums sind, denn im Laufe des Abends erweisen sie sich als viel zu multifunktional um wirklich antik sein zu können.



Ein Blick auf die Karte macht hungrig. Sehr erfreulich, man erlegt den Gästen hier nicht auf, dass alle das große Menü essen müssen, wenn nur einer (im Zweifel der Igel) hinreichend viel Hunger für die große Oper mitgebracht hat. Jeder kann nach Belieben Gänge weglassen, ohne dass die anderen verzichten müssten. Exzellent sortierte Weinkarte, mit zumeist fairen Koeffizienten. Das Hubacker GG von einem gewissen Herrn Keller liegt bei 105 Euro, der Rieslingsmaragd von Knoll bei 110, das ist für ein Lokal dieser Klasse in einer Stadt dieses Preisniveaus und einem Stadtteil dieser Millionärsinzidenz fast geschenkt. Die Bordeaux und die Champagner freilich haben wohl Ausländermaut zahlen müssen, für sie gelten Phantasiekoeffizienten – wie das inzwischen leider fast überall in der Spitzengastronomie der Fall ist. Ich hab mal zwei kleine Rieslinge zum Menü geordert.




Die Spiele beginnen mit einem Rote-Bete-Baiser mit Ste.-Maure und fermentiertem Knoblauch. Und, rumms, das schlägt gleich voll ein. Schönes Spiel zwischen der Betefrucht, der Würze des Knofel und der leichten Ziegigkeit des Käses. Der Knofel schaltet sich erst ganz am Ende zu, bis dahin lässt er den feineren Aromen reichlich Platz und beobachtet von der Seite auch, wie der texturelle Kontrast zwischen knackigem Baiser und Cremigkeit des Ste.-Maure im Auge des Igels ein fröhliches Leuchten entfacht. Fast auf gleichem Niveau spielt das Profiterole von Kalbskopfsülze und Rettich. Ein Sülzescheibchen auf dem erstaunlich wenig süßen Gebäckhäppchen, dazu ein Klecks Meerettichremoulade, das ergibt einen interessanten Dialog aus Schärfe, Würze und leichter Süße. Und natürlich wieder ein faszinierendes Miteinander unterschiedlicher Texturen.




Etwas weniger hat mich das hauchdünne Frühlingsröllchen mit einer Füllung von Räucherforelle begeistert. Gut, sicher, das ist auch ein wenig persönliche Vorliebe. Als Nichtraucher hätte ich die Räucheraromen gerne etwas dosierter. Die meisten Gäste wird’s nicht stören. Ich bin da speziell, ich weiß.



Der Service brachte nun dreierlei hausgebackenes Brot, kräftige Sorten, sehr gelungen – mir fehlte nur eine etwas neutralere Variante, weil ich ja zwischendrin immer wieder mal dem unfeinen Hobby des Auftunkens besonders grandiosen Saucen nachgehe – und die möchte ich dann ja so unverfälscht wie möglich genießen. Großartig dafür die beiden Aufstriche, die zum Brot gereicht wurden. Einmal eine sehr fein abgeschmeckte Kürbiscreme, formvollendet serviert in einem winzigen Kürbischen. Und dann eine Zwiebelpaste, mit zahllosen Kräutern, die die Küche in einen zierlichen Blumentopf verpackt hatte. Dass das Auge im Atelier mitisst, verheißt schon der Name des Lokals, hier werden echte Kunstwerke angerichtet.



Die Zurückhaltung fiel mir bei beiden Cremes richtig schwer. Zum Glück wurde ich schnell mit dem nächsten Amuse abgelenkt, einem Pulpo in Tomatenessig und Tomatenbutter mit Kimchi und Macadamianüssen. Macadamia, ja, genau, das ist die Nuss, die beim Igel regelmäßig zur überflüssigen Nuss des Monats gewählt wird, weil sie gesund ist und auch so schmeckt. Nämlich nach fast nix. Nicht im Atelier! Hier haben die Magier am Herd irgendwie einen kräftigen Haselnussgeschmack an die Macadamia bekommen, der die leicht fischigen Aromen des Pulpo so richtig schön einmantelte. Der Essig brachte Lebendigkeit in die Sache, die Butter eine gewisse Cremigkeit und der sehr dezente Kohl noch eine würzige Abrundung. Ganz großes Kino!


Ich hatte schon meine Höchstnote vergeben, da kam etwas, was mich noch tiefer in die innere Verbeugung gehen ließ. Das „Oeuf Benedict“, Eimasse, in einem Ei serviert, obenauf Hollandaise, unten drunter Schinken, Eigelb und etwas Spinat. Perfekte Balance, das eigentlich simple Gericht wurde so zu einem sensationellen Erlebnis.




Der etatmäßig erste richtige Gang des Menüs bestand aus Kingfish mit Kohlrabi, Zitronensphären und Dill. Superb! Zitrone und Dill sind ein eingespieltes Team und liefern auch hier wieder die Hintergrundmusik für den Fisch, genau richtig dosiert, so dass der geschmacklich nicht absäuft. Den interessanten Akzent setzt der Kohlrabi, allerdings erst im Abgang, als kleiner Turbolader. Sehr starke Komposition, kann man nicht besser ausführen.



Fast ebenso köstlich fand ich den Carabinero mit Sanddorn, Karottenrohkost und Bisque. Feiner Granat, keine Spur mehlig, keine Spur überröstet, ganz auf dem Punkt, saftig und fleischig. Spielt sich mit dem Sanddorn und der Karotte wunderbar die Aromenbälle zu, wobei der Sanddorn vor allem seine leicht bittere Säure einbringt und die Karotte ihre erdige Frucht. Die Bisque hätte eigentlich beurre blanc heißen müssen, denn das war kein herber Extrakt aus Hummerkarkassen, sondern ein weinig-cremiges Spektakel, das den Granat noch eine Dimension eleganter und facettenreicher erscheinen ließ.



Weiter ging es auf interstellarem Niveau. Kalbsbries mit Rieslingkraut, im Wisingblatt auf Kapern-Limonen-Sauce und gerösteter Rapssaat. Perfektes Bries, leicht mehliert gebraten, das Sauerkraut zurückhaltend gewürzt und sparsam dosiert, damit die Säure die Süße des Bries nicht abtötet, sondern kontrastierend hervorhebt. Eine Nussbutter verbindet beides spielerisch, die Sahne aus der Sauce assistiert dabei. Kapern und Zitrone sind nur mit Mühe im Hintergrund wahrzunehmen. Gut so, es wäre sonst zu viel der sauren Akzente gewesen. Geröstete Rapssaat hatte ich zuvor noch nie probieren dürfen, interessant! Jetzt nicht im biolekschen Sinne, wo das mühsam herausgequälte „interrrressant“ um so mehr als Synonym für gruselig gelten musste, je zahlreicher die „r“ waren, die der olle Bio in dem Wort unterzubringen beliebte. Sondern tatsächlich spannend, weil Neuland und weil aromatisch schwer zu bestimmen, irgendwo zwischen Quinoa und Mohn vielleicht. Erneut eine Komposition auf Weltklasseniveau.



Nun wurde es bayerisch, es gab Schweinebauch. Nicht ganz die Hofbräuhausvariante, sondern schon etwas ernsthafter. Also mit Enokipilzen, einer Ramensauce und Bohnen. Wieder ein reizvolles Ding. Denn das war eine durchaus rustikale Wutzenwampe, die aber mangels Obergrenze für japanische Zutaten in eine völlig fremde Welt gesetzt worden ist. Die Sauce bringt Umaminoten, an denen die Sau sich prima reiben kann. Und das hochkonzentriert, denn da ist fleißig einreduziert worden, das ist mörderintensiv. Die kleinen runden, grünen Bohnen mit viel Biss setzen einen weiteren Kontrapunkt daneben. Mir gefällt das, ich hätte mir vielleicht nur ein, zwei Tupfer mehr von dem wunderbaren Kartoffelpüree gewünscht, das sich in mikroskopischen Mengen auf dem Teller befand und das die Intensität der Sauce ein wenig abmilderte, soll heißen die Bindung zum Schwein hergestellt hat. Keine Kritik, wieder habe ich innerlich applaudiert, ein mutiges und begeisterndes Gericht!



Als Erfrischung zwischenrein, wir sind in Bayern, servierte die Küche eine Flasche Radler. Eine echte Flasche, aufgesägt und mit Granité von Sake, Yuzu und Ingwer befüllt. Aufgegossen wurde dann tatsächlich mit Bier, das schäumt munter herum und harmoniert geschmacklich so gut, dass selbst der Nichtbiertrinker aus dem Igelbau brav die Flasche leerte. Am Ende bleibt als Bodensatz das Granité, da schmeckt dann plötzlich die Yuzu kraftvoll hervor, fein! Schöner Gag!



Weiter ging es mit der Mieraltaube auf gebranntem Reis mit Williamsbirne, schwarzem Knoblauch und Leber. Superbe Taube, extrem konzentrierte Sauce, pur wäre sie mir deutlich zu intensiv, aber ich soll sie ja auch nicht pur essen, sondern das Fleisch damit eincremen. Und schon passt es. Nimmt man die Birne und die Leber hinzu wird aus dem exzellenten Gericht sogar ein wahres Wunderding, da explodieren Frucht, Süße, Säure und das leichte Wildaroma geradezu miteinander. Nur der Knofel ist mir ein winziges Spürchen zu rüpelig, aber das geht schnell unter. Wow, was für ein Erlebnis!



Als Käsegang kommt statt eines Wagens, der mich zu diesem Zeitpunkt zu einer Völlerei verleitet hätte, die mich mehrere Hemdenknöpfe hätte kosten können, zum Glück „nur“ ein Tete de Moine. Mit Dörrobsttapende, Himbeeren und Stachelbeersaft. Ich sollte ergänzen, dass der Käse in zweierlei Texturen unterwegs war, einmal die gehobelten „Mönchslocken“ und einmal als sahnige Creme. Sehr reifer Käse, das passt perfekt zu den lebhaften Fruchttönen. Unten sind noch ein paar Nüsse drunter versteckt, die die Käsearomen noch etwas mehr hervorheben. Das Dörrobst geht irgendwann steil und gibt der Sache einen ungemein kraftvollen, endlosen Abgang.



Zeit zu dessertieren! Den Anfang macht ein Rotweineis mit Trauben, Rotwein-Port-Jus und einem irgendwie in Form eines Rebzweiges gebrachten Stück russisch Brot. Wieder so eine Sauce vom anderen (dritten!) Stern. Wieder einreduziert bis der Arzt kommt, eine muskulöse Mischung von Port und sehr kräftigem Rotwein. Pur wäre mir das zu heftig, mit dem Eis ist es perfekt. Es ist schwer, das angemessen in Worte zu fassen, aber hier zieht sich höchste Kompositionskunst wie ein roter Faden durch das Menü. Ein wenig erinnert es mich an Ducasse in den Zeiten als er noch selber kochte. Während Gagnaire in St.-Etienne zwanzig Zutaten auf die Teller häufte, die auf wundersame Weise alle miteinander harmonierten, hatte Ducasse in Monte Carlo nur drei, maximal vier Dinge auf dem Teller, darunter eine Sauce, in die die siebzehn anderen Zutaten schon eingearbeitet waren. Gagnaire versus Ducasse oder Opulenz versus vermeintlichen Minimalismus. Oder auch kompositorisches do it yourself gegen Vollendung in der Küche. Im Atelier erlebe ich die Vollendung in der Küche in einer Weise, wie ich es seit Ducasse selten auf diesem Niveau gesehen habe. Hut runter, mitsamt Gamsbart!



Das Niveau hatte auch der frittierte Blätterteig mit Johannisbeere, Nusseis, Scharfgarbe und Vanilleessig. Klasse! Viel Säure von der Jo-Beere, ein Nusseis, dass leicht und fein daherkommt, nur ein Haucherl Kräuter, sehr voll und erstaunlich komplex.





Es folgen noch zahlreiche Abschiedsgrüße aus der Küche. Gefüllter Brotteig mit Apfelkraut und Nougat, Schaumküsse mit rotem Shizo, dreierlei Macarons. Ich war ja eigentlich satt. Aber jede einzelne dieser Köstlichkeiten war die Sünde wert. Kalorien sind die kleinen Tiere, die nachts im Schrank die Kleider enger nähen, ich weiß – aber München hat ja ein, zwei ganz annehmbare Herrenausstatter, wo man die nächsthöhere Konfektionsgröße einkaufen kann.


Fazit: Ein ganz großer Abend! Wenn das nicht drei Sterne sind, dann gibt es keine Dreisterner. Klares Kommando an den Michelin aus dem Igelbau! Aber nix is fix beim roten Buch, ich sage nur Essigbrätlein, wo man ganz anders aber ebenfalls auf Dreisternelevel kocht. Oder Le Grand Restaurant in Paris. Beide warten und warten und warten auf das dritte Gestirn. Bislang vergeblich. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass nur vier Wochen nach meinem Besuch der Michelin ein Einsehen mit dem Atelier hatte und heute den dritten Stern über dem Haus hat aufgehen lassen. Wohl verdient! Glückwunsch!!

Andererseits – ich hätte ja gerne noch ein paar Wochen weiter sondiert…


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